Die­ter Berg: Zukunft ist die bes­te Medaille

Wir sind der DBV

Wer sagt denn, dass Her­an­wach­sen­de aus schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen nur Defi­zi­te auf­wei­sen? Die­ter Berg macht in der Hin­sicht nicht nur, aber vor­wie­gend ande­re Erfah­run­gen, Tag für Tag. Die meis­ten Kids mit pre­kä­rem Hin­ter­grund sei­en in Trai­ning und Wett­kampf beharr­li­cher als ande­re, sagt er, »die bei­ßen ein­fach anders«. Das ist der Punkt, an dem er sie zu packen kriegt, manch­mal wirk­sa­mer als es stu­dier­ten Päd­ago­gen gelingt: Plötz­lich sind sie bereit, sich an fes­te Regeln zu hal­ten – und Wer­te, die der 56-jäh­ri­ge in sei­nen Box­stun­den wie neben­bei ver­mit­telt. Pünkt­lich­keit. Respekt. Höf­lich­keit. Und vor allem: kei­ne Gewalt!

»Ich schi­cke auch nie­mand weg, wenn er kein Deutsch spricht«, so Berg. »Dafür kann er ja nichts. Wir ver­stän­di­gen uns dann mit Hän­den und Füßen. Außer­dem ler­nen Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund die Spra­che so schnell, wenn sie erst­mal in der Schu­le inte­griert sind…«

Der Mit­tag ist fast vor­bei, als sich der zwei­fa­che Euro­pa­meis­ter der DDR im Flie­gen­ge­wicht (1985) in sei­nem Büro unterm Dach der Box­hal­le des BC Trak­tor Schwe­rin durch Papier­kram kämpft. Das muss erle­digt wer­den, bevor er wie­der ›auf die Hal­le‹ kann. Was in die­sem Fall gleich für zwei Orte steht. Berg unter­rich­tet die Kunst des Faust­fech­tens nicht nur hier, an der Wit­ten­bur­ger Stra­ße, wo auch der Tra­di­ti­ons­klub Trak­tor Schwe­rin und das Sport­gym­na­si­um zu Hau­se sind. Son­dern genau­so gern am Gro­ßen Dreesch – der vor gut fünf­zig Jah­ren aus dem Boden gestampf­ten Plat­ten­bau­sied­lung im Süd­os­ten, die heu­te – etwas zu pau­schal – als sozia­ler Brenn­punkt gilt.

Eine alte Hal­le ist gut genug und stif­tet Atmosphäre

Die alte Sport­hal­le dort, an der Hegel­stra­ße, kann zwar nicht ver­ber­gen, dass sie von vor­ges­tern ist. »Aber ich fin­de die so geil«, betont der sonst eher lei­se Cha­rak­ter mit spür­ba­rer Begeis­te­rung. Seit er dort zwei Rin­ge, acht Sand­sä­cke und wei­te­res Equip­ment unter­brin­gen konn­te, ist doch wie­der Leben in der Bude. Sinn­stif­tung am Nach­mit­tag für Jus­tin und Mus­ta­pha, Mal­te und Dimitar, die kes­se Maral, die ehr­gei­zi­ge Sham plus all die ande­ren. Außer­dem hät­ten die Ent­schei­der von der Stadt schnell erkannt, »dass wir da ne gute Sache machen«. Und die skep­ti­schen Stim­men über­hört, die damals, vor gut zwölf Jah­ren, zunächst vehe­ment dage­gen waren.

›Boxen statt Gewalt‹: Der Slo­gan des Sozi­al­pro­jekts leuch­te­te man­chem, der im Kon­takt­sport eher eine Brut­stät­te denn The­ra­pie für rabia­te Jugend­li­che sieht, nicht gleich ein. Doch Berg fand ihn »schon immer klas­se, weil er wahr ist«, und kann heu­te auf impo­san­te Zah­len ver­wei­sen. Unter der Woche trai­nie­ren hier jeden Tag fünf­zig bis sech­zig Kin­der und Youngs­ter. Neun­zig Pro­zent davon haben einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund, und ähn­lich vie­le neh­men das Ange­bot zur schu­li­schen Nach­hil­fe durch den gemein­nüt­zi­gen Inter­na­tio­na­len Bund (IB) als Part­ner des Pro­jekts wahr. Sport und Bil­dung sind eng verzahnt.

Auf die­se Wei­se hat Berg mit meh­re­ren Co-Trai­nern bis heu­te etwa fünf­zehn Schütz­lin­gen zu einem deut­schen Meis­ter­ti­tel ver­hol­fen, vor­wie­gend im Junio­ren­be­reich. Dazu kom­men viel­leicht zwan­zig, so schätzt er, die Sil­ber und Bron­ze gewan­nen. Das hat die Ambi­tio­nen des sechs­fa­chen deut­schen Meis­ters in zwei Gewichts­klas­sen und deut­schen Repu­bli­ken (1984 bis ’88 im Fliegen‑, 1991 und ’93 im Ban­tam­ge­wicht) eher noch ver­stärkt: »Man wünscht sich natür­lich, dass irgend­wann mal einer auf dem olym­pi­schen Trepp­chen steht, der bei dir ange­fan­gen hat. Aber das ist ein wei­ter Weg…«

Ein rau­er Sport kann Zuflucht sein und man­ches anschieben

Im Zwei­fel zäh­len die Schul­ab­schlüs­se, die sei­nen Ele­ven häu­fig gelin­gen, jedoch ein­deu­tig mehr. Der ehr­gei­zi­ge Trai­ner und beken­nen­de »Per­fek­tio­nist« hat ja bald rea­li­siert, »dass das anders läuft mit Kin­dern. Die müs­sen auf­ge­fan­gen wer­den. Da kann der Sport ein Mit­tel für ganz vie­le Sachen sein, auch fürs Leben.« Das funk­tio­niert nicht in jedem Fall, wie er oft genug erfährt. Den­noch soll­te der Ver­such, mit dem Gym eine Art Zuflucht anzu­bie­ten, immer wie­der unter­nom­men wer­den. Ist es das nicht schließ­lich auch für ihn gewesen?

Die­ter Berg ist fünf­zehn, als er sei­ne Eltern ver­liert. Kurz vor der Ein­wei­sung in ein staat­li­ches Heim rich­tet der SC Trak­tor Schwe­rin dem quir­li­gen Talent aus dem Hage­nower Land vor­zei­tig einen Platz im Sport­in­ter­nat ein. Das ist für ihn viel­leicht die Ret­tung: »Ich weiß nicht, was sonst aus mir gewor­den wäre.« Ab sofort wer­den renom­mier­te Trai­ner wie Wil­li und Otto Ramin oder Fritz Sdunek sei­ne wich­tigs­ten Bezugs­per­so­nen, und er zahlt ihre För­de­rung mit Leis­tung zurück. Wird mit 18 DDR-Meis­ter der Junio­ren wie der Senio­ren, gewinnt Medail­len bei gro­ßen Tur­nie­ren. Und bleibt doch in Schwe­rin, als ihn Sdunek nach der Wen­de zu Bay­er Lever­ku­sen holen will.

Ich will mit den Jungs und Mädels was errei­chen. Will ihnen das Boxen bei­brin­gen und Wer­te ver­mit­teln, da müs­sen sie schon rich­tig mitmachen.

Ganz zufrie­den ist er am Ende (1995) nicht, weil ihm die ulti­ma­ti­ven Erfol­ge bei Welt­meis­ter­schaf­ten und olym­pi­schen Tur­nie­ren feh­len, doch »ich wür­de es wie­der so machen. Leis­tungs­sport ist ein har­tes Brot. Aber wer da erfolg­reich war, kommt anders durch’s Leben.« So glückt ihm nach einem Ver­such in der Bau­bran­che (»Bau lag mir nicht«) der Wech­sel in die Gas­tro­no­mie. Sei­ne Sport­bar ›Olym­pia‹ am Wit­ten­bur­ger Berg, nicht weit vom Mari­en­platz, mau­sert sich in den spä­ten Neun­zi­gern rasch zum belieb­ten Insi­der-Treff in der Landeshauptstadt.

»Wenn der Hen­ry geboxt hat, war da drin­nen kein Platz mehr«, erin­nert Berg die Aben­de, an denen Weg­ge­fähr­te Mas­ke sei­nen Pro­fi-Titel ver­tei­dig­te. »Oft stan­den die bis drau­ßen und guck­ten durchs Fens­ter, dann habe ich den Fern­se­her extra hoch­ge­stellt. Das war ’ne schö­ne Zeit. Aber ich hab’ gleich gesagt, dass ich irgend­wann mal wie­der mit Kin­dern arbei­ten möchte.«

Sie­ben Jah­re lang hat­te Berg zu der Zeit bereits ehren­amt­lich Schü­ler wie Schü­le­rin­nen trai­niert – und dabei »so einen Draht« ent­wi­ckelt, der bei­de Sei­ten dann auch beim Pro­jekt ›Boxen statt Gewalt‹ kurz­schließt. »Das ist geni­al«, schwärmt er, und sieht gleich wie­der deut­lich jün­ger aus. »Da sit­ze ich vorm Trai­ning im Büro, und plötz­lich kommt der Ers­te lei­se rein und packt mich aus Spaß von hin­ten. Da krie­ge ich ’ne Gän­se­haut…« Nur ist die Nähe, die dabei wächst, kein Selbst­zweck: »Ich will mit den Jungs und Mädels was errei­chen. Will ihnen das Boxen bei­brin­gen und Wer­te ver­mit­teln, da müs­sen sie schon rich­tig mitmachen.«

Dann kommt der Moment, wo Die­ter Berg wie­der los­zie­hen muss. Im Schnitt sind zwei Grup­pen am Tag zu trai­nie­ren, und die nächs­te Run­de ist immer die wich­tigs­te. Das war bei ihm schon immer so.


Die­ter Berg