
In einer überschaubaren Nische kommt es umso mehr auf jeden einzelnen an. Das gilt für den Alltag auf einer Nordsee-Hallig ebenso wie für den Betrieb einer olympischen Sportart am nordwestlichen Rand von Deutschland. »Wir sind hier sowas wie eine kleine Insel«, fasst Marco Blome für seine Besucher zusammen, »und wenn wir die zusammenhalten können, dürfen wir froh sein.« Damit ist auch schon einiges über Gegenwart und Zukunft des Boxens im Elbe-Weser-Dreieck gesagt, wo es schon nach Küste riecht. Sowie, etwas weiter gefasst, im kleinen Reich des Bremer Amateurbox Verbands (BrABV), dem aktuell neun Vereine angehören.
»Macht der Marco«, heißt es meistens, wenn da etwas zu regeln ist – ob das nun gerade den Landesverband oder speziell den Weser-Boxring als Traditionsverein betrifft. Beide haben ihre Adresse in dem zweigeschossigen Gewoba Boxsportcenter in Bremerhaven, das mal ein Parkhaus gewesen ist. Und da wirkt der schlaksige Bremer mit dem Vollbart, Jahrgang 1970, jeden Tag unter der Woche. Als Präsident des Verbands, der erst 1988 gegründet wurde, sowie als 1. Vorsitzender und Jugendcoach in dessen mitgliederstärkstem, erfolgreichstem Verein. Nicht eingerechnet die Wochenenden, an denen er mit »den Kids«, wie er gern sagt, zu Wettkämpfen fährt.
Blome ist dabei nicht völlig allein, vor allem Cheftrainer Mohamad Zaher unterstützt ihn seit Jahr und Tag nach Kräften. »Wir beide ergänzen uns«, sagt er in seiner knappen Diktion. Ein paar Schultern mehr wären manchmal trotzdem gut, um alle Aufgaben zu stemmen, »aber heutzutage ist es wirklich sehr schwer, Leute zu finden.« Aber noch klappt das, weil Marco tatsächlich alles macht: Als ehrenamtlicher Leiter von Verband und Verein, der mit dem üblichen Übungsleiter-Satz vergütet wird, wie als Teilzeit-Mitarbeiter der Stadt, in deren Auftrag er ganz in der Nähe Schulklassen trainiert. Was in der Summe dazu führt, dass er mit der ›Boxerei‹ im Kopf »24 Stunden am Tag« beschäftigt ist, wie er bilanziert.
Echtes Bedauern schwingt da jedoch nicht mal im Ansatz mit. Marco Blome fand den Verein, der vor 75 Jahren gegründet wurde, seit jeher »ziemlich cool – schon wegen des Logos mit den drei Streifen, das überall in der Stadt auf den Aufklebern war«. Hier hat er als nicht eben pflegeleichter Schüler nach ersten Karate-Erfahrungen zum Boxen gefunden, »weil einer sagte, jetzt kommste mal mit«. Und später war immer irgendeine Aufgabe zu übernehmen, vom Jugendwart über den Nachwuchstrainer bis zum zweiten bzw. ersten Vorsitzenden. So ist er über die Jahre »da reingerutscht und dann voll hängen geblieben. In Anführungsstrichen natürlich, man macht´s ja gerne…«
Der Verein als Katalysator: Inzwischen ist im Umfeld viel weniger ›Stress‹
Außerdem ist das weitläufige Gym auch über den Sport hinaus ein gewisser Faktor: Seit der Eröffnung (1991) hat es mit seinen Fitness- und Kampfsport-Angeboten mit dazu zu beigetragen, dass in seinem brisanten Umfeld, der Siedlung am Bürgerpark, inzwischen deutlich weniger Stress gemeldet wird. In dem Sinne ist Blome froh, »dass das Zusammenspiel der Kulturen bei uns reibungslos funktioniert. Das war schon früher mit Kurden und Türken so, und jetzt haben wir hier Russen und Ukrainer, das klappt perfekt. Aber ich denke, das ist in den meisten Vereinen so.«
Die Stadt Bremerhaven weiß die Katalysator-Wirkung des Weser Boxrings jedenfalls zu schätzen. Sie holt deren Verantwortliche gern hinzu, wenn an den Schulen und drum herum Probleme auftauchen, und bringt ihre Anerkennung dafür nicht zuletzt in günstigen Mieten und Nebenkosten für das Boxcenter zum Ausdruck. Und wenn Blome genauer nachdenkt, ist dieser Aspekt des Vereinslebens für ihn im Zweifel sogar der Entscheidendere.
»Noch mehr freut man sich, wenn man die Kids später als Erwachsene trifft und sieht, dass sie lebensfähig geworden sind. Das ist eigentlich die Hauptsache.«
»Leistungssport ist hier natürlich auch«, sagt er, und hat gleich die Namen herausragender Aktiver aus dem Landesverband parat – von Peter Gerber, zweimaliger Vize-Europameister im Halbschwergewicht (1965 u. ’67) bis zu Mittelgewichtler Artur Ohanyan-Beck, der heute als Artur Henrik bei den Profis reüssiert. »Aber noch mehr freut man sich, wenn man die Kids später als Erwachsene trifft und sieht, dass sie lebensfähig geworden sind. Das ist eigentlich die Hauptsache… Das ist hier zwar eine Piratenstadt, wo man die Großen gerne mal ärgert. Aber sie sollen sich trotzdem nicht wie Piraten benehmen.«
Die Nische als Herausforderung: Alles muss erstmal angeschoben werden
Dann schon eher deutsche Meister und Olympiasieger – obwohl das in dieser Ecke nicht einfach ist. Ein talentierter Youngster wird hier wohl schneller Landesmeister als anderswo; anderseits gestaltet sich der Weg zur nationalen Spitze danach umso länger. Der nächste DBV- Stützpunkt (Hannover) ist fast 200 Kilometer entfernt, und um vor Ort selbst einen einzurichten, bräuchte es mehr Überzeugungsarbeit sowie weitere, qualifizierte Funktionsträger. Nur laufen solche, die daran Interesse haben, Blome nicht jeden Tag über den Weg. »Wenn noch andere mit anschieben würden, ließe sich manches realisieren«, sagt er vieldeutig.
Etwaige Angebote, an einen größeren Landesverband anzudocken, sind für den Überzeugungstäter bis dato keine ernsthafte Option gewesen: »Wir sind ja nicht pleite und wollen Bremen weiter repräsentieren. Und vor allem wollen wir unseren Namen beibehalten. Bei einem interessanten Angebot zu zukunftsfähiger Kooperation wären wir allerdings für Gespräche offen.«
Für eine Saison (2017/18) mischten die »Fishtown Fighters«, so der Staffelname des Weser Boxrings, sogar mal in der 2. Bundesliga mit. Das war sportlich erfolgreich, weil am Ende ein 2. Platz in der Tabelle raussprang. Finanziell war es jedoch »ein Kraftakt«, so Blome, und von den Zuschauerzahlen her »eine Katastrophe«. Dafür wurde ein Kampfabend, bei dem ein ehemaliger Eishockey-Crack der Fishtown Pinguins gegen einen Hallensprecher antrat, vor fünf Jahren zum veritablen Hit: Beide hatten über Social Media und Lokalfunk Massen an Fans und Followern aktiviert. An solche Effekte muss der Vorsitzende sich erst noch gewöhnen: »Ich mag auch keine Kämpfe zwischen Rappern, da bin ich altmodisch.«
Immerhin haben sie mit dem Open Air Kampftag im ›Schaufenster Fischereihafen‹ ab 2021 selbst ein einträchtiges Sommerevent kreiert. Sein Zulauf bestätigt Marco Blome, das mit der Boxerei so lange durchzuziehen wie er kann. Weil machen im Zweifel immer besser ist als jammern oder schlaue Reden halten, wie er am Ende des Tages noch mal betont: »Da hängt irgendwo ja auch Liebe zur ganzen Geschichte dran.«