Kadetten und Junioren, Teenagerinnen und ausgewachsene Männer: Alle haben sich in der »Box-Mühle« des BC Gifhorn erstmal in einer Reihe aufzustellen, bevor an vier Abenden in der Woche, pünktlich um halb sieben, das Training der Fortgeschrittenen beginnt. Damit setzt Vitali Boot ganz bewusst ein Signal. »Disziplin ist das A und O«, wird er hinterher erklären, »das muss funktionieren. Und so wissen die gleich, aha, hier herrscht Ordnung, es gibt bestimmte Regeln…«
Letzten Endes aber liegt es vor allem an der Ausstrahlung, dass der 51-jährige Übungsleiter seinen Laden so reibungslos zusammenhält. Die sonore Stimme füllt die Räumlichkeiten im historischen Zentrum der niedersächsischen Kreisstadt bis in den letzten Winkel hinein. Dazu kann er die Inhalte, die in zwei Hochringen zu vermitteln sind, immer noch mustergültig vorexerzieren. Das in Kombination nimmt die gesamte Gruppe mit — ob da nun fünfundzwanzig vor ihm stehen oder, viel häufiger, fünfundvierzig.
Boot? Mancher wird sich an den Aktiven erinnern, der vor einem Vierteljahrhundert ein echter Faktor im Superschwergewicht war: Sieben Mal deutscher Meister zwischen 1997 und 2004, mehrfacher Mannschaftsmeister in der Bundesligastaffel des BC Velbert sowie einziger Medaillengewinner des DBV bei der WM 2001 in Belfast (Bronze). Das so abzuliefern, fiel dem gebürtigen Kasachen mit deutschen Vorfahren nicht leicht: Er hatte im Volkswagen-Werk in Wolfsburg auch noch einen Job als Betriebsschlosser zu stemmen, phasenweise in drei Schichten.
›Dualer Weg‹, sagt man heute und meint damit in der Regel eine parallel zum Boxen betriebene Ausbildung. Doch für Vitali Boot bedeutete es seinerzeit, sofort an zwei Fronten abzuliefern, und im Grunde ist das bis heute nicht viel anders. Nur dass er bei VW längst in die Tagesschicht gewechselt ist, Abteilung Instandsetzung. Dadurch kann er weiter in dem erstaunlichen Verein wirken, der ihn einst selbst entwickelt hat. »Der liegt mir einfach am Herzen«, sagt er in seiner direkten, offenen Art.
Der Tag ist voll: Erst die Schicht in der Autostadt, dann das Training in der ›Boxmühle‹
Das ergibt eine fordernde Agenda. Wenn der Überzeugungstäter von der Schicht in Wolfsburg nach Hause kommt, hat er gut zwei Stunden Zeit für einen Kaffee in der Familie sowie einige Dinge, die zu regeln sind. Dann macht er noch mal los, um seine Schützlinge hier durch die Mühle zu drehen. Und ihnen jeden Tag wieder zu vermitteln, dass ein intelligent, ja elegant geführter Kampf so viel mehr wert ist, »als wenn du dich nur geprügelt hast. Das bringt dich als Boxer nicht weiter.« Nicht zu reden von Meisterschaften und Vergleichskämpfen, die einen konsequenten Betreuer auch am Wochenende intensiv beanspruchen können.
Viermal drei gleich 12 Stunden pro Woche also, beziehungsweise 48 Stunden im Monat: Nach dem gültigen Mindestlohn wäre dieser Einsatz, als Arbeit verstanden, theoretisch 576 Euro wert. Tatsächlich erhält Boot – wie so viele Trainer in so vielen Mitgliedsvereinen des DBV – lediglich eine bescheidene Aufwandsentschädigung. Das macht die Aufgabe de facto zu einem Ehrenamt. Diese Tatsache macht ihm allerdings weniger zu schaffen als eine andere Schieflage: Gemessen an der Zahl der Mitglieder, nämlich knapp 500, gibt es in diesem Verein zu wenig Exemplare seiner bedrohten Spezies.
Die Jungs müssen dich schätzen und an dich glauben, wenn sie in den Ring steigen. Schon deshalb musst du zusehen, dass du wirklich mit dem Herzen dabei bist.
»Ich würde mich gern klonen«, sagt Boot. »und am besten wäre dieser Klon zehn Jahre jünger. Dann könnte ich hier auch mal eine Nachwuchsgruppe hochziehen. Wir brauchen ja eine gewisse Masse, um eines Tages die Qualität zu kriegen. Und Trainer, die bereit sind, auch mal am Wochenende irgendwo hinzufahren, um die Jungs am Ring zu betreuen. Aber diese Schuhe von mir will sich kaum einer anziehen…«
Boot war bereits als erfahrener Aktiver ein Stück weit da reingerutscht, wenn er talentierte Youngster wie Alexander Powernow oder Boris Boshenko ›auf der Halle‹ begleitete: »Ich hab’ die einfach mitgezogen, als Sparringspartner und älterer Freund.« Nach seinem letzten Bundesliga-Duell (2009) verfolgte er wenige Kilometer weiter dennoch erstmal ein eigenes Projekt, als er im ›Flexx Boxklub Isenbüttel‹ seine ersten Gruppen coachte. Das hatte nicht nur mit den schicken Trainingsjacken zu tun, auf denen groß und breit ›FBI‹ stand: »Ich wollte rausfinden, ob ich auch allein was aufbauen kann. Ich war da Präsident, Sportwart und Trainer.«
Die kleine Stadt und der große Sport: Gifhorn ist eine feste Adresse – und kann auch Champions
Es war dann eines der vielen Verdienste von Werner Kasimir, dem damaligen Vereinspräsidenten, dass der Alleinunterhalter drei Jahre später zum BC Gifhorn zurückkehrte. Auch dadurch konnte der Klub halbwegs an die Erfolgsgeschichten anknüpfen, die ihn weit über den Niedersächsischen Boxsport-Verband hinaus zu einer Qualitätsmarke gemacht haben. Geschichten von deutschen Meistern, Turniersiegern sowie späteren Profis wie Michael Gratschow, Alexander Powernow, Dimitri Sartison, Eduard Gutknecht und zuletzt Nick Bier, vierfacher Juniorenmeister und Mitglied der Bundesliga-Staffel von Traktor Schwerin.
Etwas muss Boot richtig machen, denn Bier ist auch heute Abend wieder mit Feuereifer dabei. Genau wie die Profis Patrick Rokohl und Erik Pfeifer, zweifacher Olympiateilnehmer und WM-Dritter aus Lohne, der sich hier für die nächsten Aufgaben im Schwergewicht fit hält. Das hat mit Vertrauen und über viele Jahre gewachsenen, persönlichen Beziehungen zu tun, wie der Übungsleiter erklärt: »Die Jungs müssen dich auch schätzen und an dich glauben, wenn sie in den Ring steigen. Schon deshalb musst du zusehen, dass du wirklich mit dem Herzen dabei bist.«
Das kann laut Boot gern so weitergehen, »ich gebe ja mein Bestes«. Trotzdem gibt es Momente, wo er sich mehr Austausch mit den Stützpunkt- und Bundestrainern, ja eigentlich auf vielen Ebenen wünscht. »Nicht nur Kinder und Heranwachsende, auch Trainer müssen motiviert werden«, sagt er noch. Dann steht da schon der Nächste vor ihm, der wieder etwas wissen will.