»Der Boxsport war doch das Einzige, was hier von Bedeutung war. Alles andere strebte gegen null. Und wenn dein Name oft in der Zeitung stand, kannten dich die Leute. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen…«
Karl-Ludwig Geier lässt sich nicht zweimal bitten, von seiner Zeit als Aktiver zu erzählen. Sie währte zweiundzwanzig Jahre sowie über 300 Kämpfe lang, von 1955 bis 1977, und hat ihm unvergessliche Momente verschafft, die niemand stehlen kann. Die deutsche Vize-Meisterschaft nebst zwei dritten Plätzen. Sechs, sieben hessische Landestitel im Halbwelter- und Weltergewicht. Außerdem eine denkwürdige Serie von fünfzehn K.o.-Siegen in Folge, die meisten davon durch seinen gefürchteten Leberhaken. Alles im Trikot des Amateurboxclubs (ABC) Dillenburg, der die Kleinstadt im Lahn-Dill-Kreis damals zu »einer Box-Hochburg« machte, so Geier, »das kann man ohne Wenn und Aber sagen«.
Mindestens ebenso wichtig war im Zweifel jedoch, was er in diesen Jahren erlebt hat – zu einer Zeit, als die Uhren noch anders tickten. Wer sich mit einem anderen Verein vergleichen wollte, musste einen Brief aufsetzen, »wer hatte denn schon ein Telefon?« Aber sobald ein Kampftag zustande kam, waren die Hallen in der Region voll. Das galt für die Lokalderbys gegen Limburg und Marburg, zu denen sich in Dillenburg tausend Neugierige ins (längst abgerissene) Kurhaus an der Bismarckstraße quetschten. Aber auch für Ausflüge nach England, Polen und Irland, wo angemessene Verpflegung fester Bestandteil der Kampfverträge war: »Da wurde geboxt, anschließend zusammen gegessen, und dann hatte sich das.«
Flinke Fäuste, starker Strom: Opa Karl-Ludwig hat gleich zwei Traditionen in der Familie begründet
Auf diese Weise wurde eine Kontinuität begründet, die für den drahtigen, inzwischen 80-jährigen Mann und seine Sippschaft bis heute gilt. ›Menne‹, wie er überall gerufen wird, hat parallel zur Sportkarriere schließlich nicht nur eine Firma für Starkstromtechnik begründet, die im Ortsteil Oberscheld über dreißig Mitarbeiter beschäftigt. Sondern auch eine regelrechte Familiendynastie, die sich mit Feuer und Flamme ins Boxen einbringt. Durchaus zum Wohl des Hessischen Boxverbands (HBV), in dessen Vorstand dieser Tage gleich zwei Geier ehrenamtlich kreisen: Karl-Ludwig alias ›Menne‹ als Vize-Präsident sowie sein Sohn Björn, Jahrgang 1969, als Schatzmeister.
Boxen ist bierernst, da musste was bringe’. Deshalb steht das bei manchen gar nicht mehr so im Zentrum des Interesses.
Da einspringen, wo es gerade nötig ist: In dem Spirit hat der Senior erst beim ABC, danach im Bezirk Gießen-Marburg und im HBV jahrzehntelang gewirkt. Er gibt den Trainer und den Vorsitzenden, den Sponsor und den Präsidenten – und nimmt seinen Sohn schon im Vorschulalter mit ins Gym: »Ich wollte ihn wie nebenher, durch die Hintertür begeistern.« Das Kalkül geht auf, denn Björn trainiert in Dillenburg ebenso eifrig und begeistert wie später in Wetzlar. Sein Nachname ist anfangs allerdings öfter Fluch als Segen, wie er bis heute erinnert: »Da hieß es, oh, das ist Menne Geiers Sohn, gegen den boxe mer net.« Jahre später wird Björn deutscher U19- und Hochschulmeister, gewinnt die hessische Meisterschaft und wird Dritter der Senioren-DM.
Vielleicht wäre noch mehr drin gewesen, hätte man sich an der Sportförderkompanie Mannheim intensiver um ihn gekümmert. So aber konzentriert sich Björn nach über hundert Vergleichen im Ring auf seinen Abschluss als Elektrotechniker sowie den Ausbau des Familienunternehmens, in dem er heute die Geschäfte führt. Von der übrigen Zeit geht ein guter Teil für Aufgaben in Verein und Verband drauf. Nicht zu vergessen die drei Jahre, in denen er das Box-Team Hessen als sportlicher Leiter und Sponsor durch die Bundesliga führt, sowie ungezählte Stunden zum Erwerb aller drei Trainerlizenzen. Er möchte vorbereitet sein, falls seine eigenen Kinder sich irgendwann für den Sport von Daddy und Opa interessieren.
Immer wieder aufstehen, auch nach einem schweren Unfall: Jetzt will Enkel Max wissen, was da geht
Tatsächlich will Max, Jahrgang 2000, als Teenager lieber gepolsterte Handschuhe überstreifen als weiter Fußball spielen. Und weil sein Opa den ABC bereits aufgelöst hat (»die sind nur noch gekommen, um dusche’ zu gehen«), bedeutet das, sich mehrmals die Woche auf den Weg zum BC 70 Wetzlar zumachen. Da schließt sich für Vater Björn ein Kreis: »So wie mein Vater mich ins Training gefahren hat, habe ich das beim Max übernommen.« Nicht mal ein schwerer Radunfall mit Schädel-Hirn-Trauma und längerer Rehabilitation können den viermaligen Juniorenmeister vom Verband Rheinland auf lange Sicht bremsen. Trainiert und beraten von den Blackwolves in Wiesbaden, hat er im letzten Jahr bereits vier Profikämpfe erfolgreich absolviert.
»Ich guck mal, wie weit ich komme«, sagt der Youngster, der auch ein duales Wirtschaftsstudium inklusive Frühschicht in einem Stahlwerk betreibt, demonstrativ entspannt. Und: »Wäre natürlich geil, wenn ich irgendwann große Kämpfe bekomme, auch im Ausland. Ich will durch den Sport ja ein bisschen rumkommen.«
Also sitzen gleich drei Generationen der Familie am Ring, wenn Max dieser Tage durch die Seile steigt: Opa Menne, Vater Björn und Mutter Katie, als emotionaler Rückhalt und ›Trainings-Taxi‹ längst unentbehrlich, sowie Schwester Nina, Jahrgang 2002, die sich nach vielversprechenden Jahren im Turnverein ebenfalls im Boxen probiert und eine Handvoll Kämpfe absolviert hat. »Die stand da wie ’ne Eins, hatte Körperspannung und Muskeln«, lobt Björn. Seit dem Beginn eines Studiums zur Physician Assistant trainiert sie allerdings nur noch unregelmäßig und überlässt die große Show dem Bruder: »Ich bin dabei aufgeregter als der Max, aber natürlich bin ich dabei.«
Ein Geier kommt eben selten allein, und das ist in Mittelhessen wie drumherum noch immer eine gute Nachricht. In dem Sinne darf Karl-Ludwig sich als Gründer und Influencer verstehen: Seine Leidenschaft fürs Boxen hat sich in der Familie ähnlich fortgesetzt wie im bestens aufgestellten Landesverband mit über siebzig Vereinen. Wer aber glaubt, dass in dem Sport alles ›easy‹ ist, liegt dem Routinier zufolge weit daneben: »Boxen ist bierernst, da musste was bringe’. Deshalb steht das bei manchen gar nicht mehr so im Zentrum des Interesses.«