Ser­gej Gol­ke: Boxen kann man nicht spielen

Portrait-Serie: Wir sind der DBV

Man­che Fähig­kei­ten las­sen sich mit genug Übung ent­wi­ckeln, ande­re bringt einer auf­grund von Bega­bung von vorn­her­ein mit. Ser­gej Gol­ke zum Bei­spiel konn­te Jün­ge­ren im Ver­ein die rich­ti­gen Bewe­gun­gen und Schrit­te fürs Faust­fech­ten schon anschau­lich ver­mit­teln, als er selbst noch erfolg­reich war; für Ahlen und Hamm, Hückel­ho­ven und Vor­wärts Bie­le­feld. Er war dar­in so gut, dass einer sei­ner Trai­ner mal sinn­ge­mäß sag­te: Wenn eines Tages nichts mehr geht, kannst du immer noch Trai­ner wer­den. Das ist vie­le Jah­re her, und heu­te ist der 47-jäh­ri­ge mit der hell­blon­den Bürs­te auf dem kan­ti­gen Schä­del genau das: Ein Übungs­lei­ter aus vol­ler Überzeugung.

Drei­mal die Woche macht Gol­ke sich nach der Schicht als Zer­span­nungs­me­cha­ni­ker bei einem orts­an­säs­si­gen Her­stel­ler für Zahn- und Juwe­lier­tech­nik noch mal auf, um abends im ost­west­fä­li­schen Lem­go nach­ein­an­der zwei Grup­pen anzu­lei­ten: Erst Kin­der und Schü­ler, von denen eini­ge gera­de erst ins Trai­ning ein­ge­stie­gen sind, danach Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne. Dazu kommt man­ches Wochen­en­de, an dem er mit sei­nen Schütz­lin­gen zu Ver­gleichs­kämp­fen oder Tur­nie­ren in der Regi­on unter­wegs ist. Alles unter der Flag­ge der Box­ab­tei­lung vom Turn- und Ball­spiel­ver­ein Lem­go 1911 e.V., die in der aus­ge­mach­ten Hand­ball-Hoch­burg bereits ein­ge­schla­fen war – bis er sie mit weni­gen ande­ren vor gut fünf­zehn Jah­ren neu erwe­cken konnte.

»Es war wirk­lich fami­li­är«, erin­nert der Mit­grün­der. »Mein ältes­ter Sohn war dabei und zwei, drei Väter mit ihren Kin­dern. Wir waren höchs­tens zehn im Trai­ning. Dann kam es nach und nach ins Rol­len, und nach einem hal­ben Jahr war die Hal­le wie­der voll.«

Obers­tes Ziel: Die Jugend­li­chen von der Stra­ße holen

Eini­ge der Youngs­ter haben von hier aus beacht­li­che Sport­kar­rie­ren gestar­tet; allen vor­an Andre­as Herr­mann, der bei den Junio­ren deut­scher Meis­ter und EM-Drit­ter gewor­den ist. Viel mehr aber gibt der Talen­te-Pool in der ost­west­fä­li­schen Klein­stadt im Lip­per­land (etwa 40.000 Ein­woh­ner) nicht her, und damit kommt Gol­ke bes­tens zurecht. So ein Auf­stieg in die abso­lu­te Eli­te geschieht doch nur, »wenn alles passt«, wie er in sei­ner ruhi­gen Art erklärt. Außer­dem ist ihm im Zwei­fel wich­ti­ger, »dass wir die Jugend­li­chen damit von der Stra­ße holen. Dass sie was tun für ihren Kör­per, ihre Phy­sis, und sich nicht rum­prü­geln. Das ist der eigent­li­che Antrieb.«

Es kann sein, dass man über das eins­ti­ge Feder- und Leicht­ge­wicht mit Bun­des­li­ga-Erfah­rung (ins­ge­samt 68 Kämp­fe bis 2006) nie wie über einen berühm­ten Meis­ter­ma­cher spre­chen wird. Den­noch ist sein Bei­trag zum olym­pi­schen Boxen kaum hoch genug ein­zu­schät­zen. Mit sei­ner ein­fühl­sa­men, gedul­di­gen Art hat Gol­ke ihm in sei­nem Wir­kungs­kreis eine kon­stan­te Hei­mat erhal­ten. Hat Woche für Woche, Jahr um Jahr das Ange­bot an alle von acht Jah­ren auf­wärts erneu­ert, sich im Übungs­raum einer Mehr­zweck­are­na übers Boxen selbst ken­nen­zu­ler­nen. In dem Sin­ne steht er für Hun­der­te von Trai­nern mit DBV-Lizenz, die in ihrer Klein­stadt bzw. ihrem Vor­ort das Glei­che tun — für eine über­schau­ba­re Aufwandsentschädigung.

Man denkt, man kann ja alles. In Wirk­lich­keit lernt man immer noch dazu. Dazu braucht ein Trai­ner Cha­rak­ter und Wil­le. Und Zeit, die er eigent­lich kaum hat.

Die Begeis­te­rung ist meis­tens groß, solan­ge die Anfän­ger mit den Grund­tech­ni­ken des Box­sports Bekannt­schaft machen. Man spürt sie auch heu­te im Raum, wäh­rend sie mit ihren ers­ten Hand­schu­hen auf Sand­sä­cke hau­en oder sich mühen, ihre Bein­ar­beit zu koor­di­nie­ren. Irgend­wann aber kommt mit den ers­ten Part­ner­übun­gen und leich­tem Spar­ring der unmit­tel­bar phy­si­sche Kon­takt hin­zu. Das ist erfah­rungs­ge­mäß die ers­te Lachs­schwel­le, an der manch hoff­nungs­vol­les Bewe­gungs­ta­lent auf­gibt – und lie­ber zu Fuß­ball oder Hand­ball wech­seln will.

»Sobald das anstren­gend wird, hat man gleich weni­ger Kin­der und Jugend­li­che«, resü­miert Gol­ke aus Erfah­rung. »Denn die einen kom­men zum Trai­nie­ren und die ande­ren zum Spie­len. Aber du kannst Boxen nicht spie­len. Es ist eine inten­si­ve Sport­art, das ver­trägt nicht jeder.« Und dann sind da auch noch die Eltern, »wenn die nicht mit­zie­hen, kannst du als Trai­ner gar nichts machen.« So stellt sich die Auf­ga­be, den gol­de­nen Weg zu fin­den zwi­schen Unter- und Über­for­de­rung und dabei alle zu errei­chen, bei jeder Trai­nings­ein­heit wie­der neu.

»Man denkt, man kann ja alles. In Wirk­lich­keit lernt man immer noch dazu. Dazu braucht ein Trai­ner Cha­rak­ter und Wil­le. Und viel Zeit, die man eigent­lich kaum hat…«

Ein­zi­ger Weg: Jeden för­dern, dass es zu ihm passt

Erst bei der Arbeit mit den Fort­ge­schrit­ten, zu denen auch Gol­kes Sohn Joel gehört, geht es dann wirk­lich um ath­le­ti­sche Qua­li­tä­ten. Die ist so ver­schie­den wie die jun­gen Aspi­ran­ten selbst, »und ich bin nicht so, dass ich nur mei­nen Stil durch­zie­he. Es bringt nichts, wenn ich jemand etwas auf­drän­gen will, was der nie hin­krie­gen wird. Ein star­ker Pun­cher wird zum Bei­spiel nie ein flin­ker Tech­ni­ker wer­den, und umge­kehrt. Kei­ner ist eine Kopie des anderen.«

Etwa die Hälf­te der Schütz­lin­ge sind zuge­wan­dert, kom­men aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Tsche­tsche­ni­en oder eben aus der Ukrai­ne. Ande­re sind Kin­der von Spät­aus­sied­lern. So viel Diver­si­tät mag viel­leicht woan­ders, aber nicht hier zu Span­nun­gen füh­ren. Das weiß Gol­ke aus eige­ner Erfah­rung. Er ist 1991 mit Eltern und Geschwis­tern aus der Stadt Taras, im Süden von Kasach­stan, in der lip­pi­schen Ort­schaft Lage ange­kom­men. Den Weg zum PSV Det­mold leg­te der 15-jäh­ri­ge mit dem Fahr­rad zurück, und im Grun­de hat er sei­ne ers­ten Sprach­kennt­nis­se dort, im Trai­ning, erworben.

»In der Box­sze­ne bist du nie Außen­sei­ter«, ist Gol­ke über­zeugt. »Wenn die sehen, dass du boxen kannst, wirst du sofort ein­be­zo­gen. Und mit Kom­mu­ni­ka­ti­on hat­te ich nie ein Problem.«

Es ist kurz nach neun Uhr abends, als Ser­gej Gol­ke end­lich sei­ne Sport­ta­sche ins Auto legt. Ein paar Din­ge haben in den Ein­hei­ten heu­te gut geklappt, fin­det er, woan­ders gibt es Bau­stel­len. Doch so oder ähn­lich ist es eigent­lich jedes Mal, und ein rich­ti­ger Lip­per­län­der macht immer wei­ter. Die Freu­de ist noch jedes Mal da, »sobald man in die Hal­le kommt und da Leu­te sind, die trai­nie­ren wol­len«. Die sol­len schließ­lich »auch als Men­schen etwas wer­den«, wie er betont: »Wenn du boxen willst, musst du bestimm­te Zie­le haben, und das geht ins Leben über. Das eine baut auf dem ande­ren auf.«


Ser­gej Golke