
Engagement hat viele Gesichter im Boxverband: Der eine wirkt als junger Aktiver, die andere als Kampfrichterin; wieder andere sind Trainer:innen, führen einen Verein oder einen Landesverband. In der neuen Artikelserie »Wir sind der DBV« porträtieren Bertram Job (Text) und Norbert Schmidt (Fotos) sehr verschiedene Menschen, die sich alle unter dem Dach des DBV einbringen – und unseren Sport damit lebendig machen. Im zweiten Teil stellen wir die Kölner Spitzenathletin Stefanie von Berge vor.
Nach dem Gewinn ihrer ersten, internationalen Medaille war Stefanie von Berge ziemlich angefressen. Alles um sie herum war begeistert, als die 16-jährige, hoch aufgeschossene Rheinländerin 2017 bei den U17-Europameisterschaften in Sofia die Silbermedaille gewann. Für sie selbst überwog an dem Abend das Gefühl der Enttäuschung. »Ich stand so kurz vorm Ziel«, erinnert sie so frustriert, als habe der verlorene Finalkampf erst letzte Woche stattgefunden. Das hat einen guten Grund: »Wenn du im Boxen Zweiter wirst, heißt das: Irgendjemand hat dich geschlagen. Deswegen gibt es für mich eigentlich nur einen richtigen Platz, und das ist der erste.«
Man könnte länger darüber spekulieren, von welcher Seite die inzwischen 21-jährige diesen besonderen Spirit hat. Ihre Mutter spielte in Kirgisien erfolgreich Basketball, bevor sie Kampfrichterin im olympischen Boxen wurde. Der Vater stand selbst im Ring und trainiert längst auch sie am Landesstützpunkt in Köln-Müngersdorf, zwischen Sporthochschule und dem Stadion des 1.FC. Absolut sicher ist nur, dass ihr großer Ehrgeiz dadurch nur umso mehr angestachelt wurde. Anders sind die beiden Goldmedaillen an der U22-EM in 2021 (Halbweltergewicht) im italienischen Roseto degli Abruzzi sowie die im März ´22 im kroatischen Porec (Welter) kaum zu erklären.
»Ich habe vielleicht erst Silber holen müssen, bis ich für Gold bereit war«, ist sie mit einigem Abstand überzeugt. »Daran sehe ich: Wenn man dranbleibt, hart arbeitet und seinen eigenen Zielen treu bleibt, muss es einfach irgendwann klappen.«
Höchste Ambitionen — im Ring wie im Studium
Stefanie von Berge ist eben in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall. Mit ihrer feinen, sauber umgesetzten Technik und den ersten Titeln ist sie zum Aushängeschild einer neuen Generation vielversprechender, junger Frauen geworden, die der Verband nicht zufällig ebenso fördert wie seine männlichen Hoffnungsträger. Und mit ihrem konsequent-disziplinierten Selbstregiment geht sie in mustergültiger Weise eine duale Laufbahn an: Hier die Boxerin des SC Colonia 06, die Siegertypen wie Katie Taylor und Vassiliy Lomachenko nacheifert; dort die Studentin, die sich mit einem Abiturschnitt von 1,0 fürs Medizinstudium eingeschrieben hat – auch wenn sie dafür ein paar Semester mehr brauchen wird, wie sie bereits ahnt.
Eines nicht ganz fernen Tages will sie ja eine olympische Medaille erobert haben, bevor sie irgendwann als zugelassene Ärztin arbeitet. Was schwieriger klingen mag als es in Wirklichkeit ist, weil sie das wichtigste Talent dazu in ihrer Ecke weiß. »Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen« sind schließlich sehr früh »Schlüsselwörter auf meinem Weg« gewesen. Sie haben sie auch durch manch unliebsame Übungseinheit wie etwa das Lauftraining oder trockenen Lernstoff in der Schule getragen. »Das Boxen hat mir bei meinen schulischen Leistungen geholfen«, ist sie im Rückblick überzeugt, »und meine schulischen Leistungen haben mir beim Boxen geholfen. Die eine Sache hat die andere unterstützt…«
Boxen ist bei uns immer und überall, aber das ist okay so. Ich mache den Sport ja aus Leidenschaft.
So weit voraus hatte das quirlige Einzelkind längst nicht gedacht, als sie den Vater anfangs einmal die Woche ins Gym von SC Colonia begleitete: »Es war einfach nur Bewegung, und es hat Spaß gemacht.« Bald aber ging sie erst zwei, dann drei Mal mit, machte ihre ersten Kämpfe und konnte als 14-jährige mit einer Ausnahmegenehmigung die deutsche U17-Meisterschaft gewinnen. Das war für sie »der Moment, wo ich dachte, okay, ich kann das doch, dann will ich auch dabeibleiben und das noch ernster nehmen.« Die Glücksmomente in den Stunden danach fühlten sich damals ja so an, »als sei ich Weltmeisterin geworden.«
Kompletter Sport: Die ganze Persönlichkeit ist gefragt
Außerdem ist das Boxen für die ehemalige Judoka und Sportgymnastin nicht nur eine Plattform für Erfolg, sondern auch »eine der coolsten Sportarten, die es überhaupt gibt«. Dort kann sie in jedes Training, jeden Kampf »meine ganze Persönlichkeit reinbringen, wie einen Fingerabdruck«, und immer wieder etwas Neues über sich selbst erfahren: »Ich geh´ ja als komplett anderer Mensch aus der Halle raus als ich hinein gegangen bin.« Dafür nimmt sie gern in Kauf, dass die Auseinandersetzung im Kopf bei einem Trainer, der danach wieder zum Vater wird, kaum einen Feierabend kennt. »Boxen ist bei uns immer und überall«, sagt sie, »aber das ist okay so. Ich mache den Sport ja aus Leidenschaft.«
Und etwas Zeit für ganz andere Dinge im Leben eines Twens bleibt trotzdem noch. Dann nimmt sie sich eine Stunde, um ihre Nägel zu machen, »dabei kann ich wunderbar abschalten«, malt mit Ölfarbe auf Leinwand, spielt Klavier oder flaniert mit Freundinnen durch die Shops und Cafés am Kölner Ring. Auch dabei spürt sie nach sieben Jahren Kampfsport ein anderes Selbstbewusstsein: »Wer das lange genug macht, geht mit einem ganz anderen Gefühl über die Straße. Deshalb würde ich mir wünschen, dass noch mehr Frauen diesen Sport machen. Bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften oder einfach nur, um fit und mental stark zu werden.«